Die Königin griff mit der Hand nach ihrem Herzen, sie sank mit bleichem Gesicht zurück. Der König aber lachte, obgleich die Zornesader auf seiner Stirn schwoll. Er wandte sich zu seinen Hofleuten: "Führt sie hinaus, sie ist nicht bei Sinnen." Schneller als sie hereingeschritten war, schritt die Alte aus dem Schloß heraus. Sie war sehr verwundert über den Zorn des Königs, über den Schmerz der Königin. War bei den Menschen ein kleines Kind so wichtig? Im Meer wurden die jungen Fischlein zu Tausenden von den größeren Meerestieren gefressen!
Weiter wanderte das alte Weib durchs Land. Die Sonne schien und der Mond und helle und dunkle Wolken zogen über ihr dahin. Sie wanderte durch Wälder und Felder bis schließlich am siebten Tage sie das Anwesen eines reichen Handelsherren betrat. Es lag mit seinen Häusern und Schuppen und einem schönen Park längs eines großen Flusses, überall regten sich fleißige Hände und eine fröhliche Kinderschar spielte im Park. Hier waren viele Kinder, hier würden die Eltern gern ein Kind fortgeben. Voller Zuversicht trat die Alte ins Haus und vor den Kaufherren. Freundlich fragte er nach ihrem Begehr. "Ich bitte euch, gebt mir Eurer jüngstes Kind." Der Kaufherr lächelte belustigt: "Gute Alte, Ihr macht einen Scherz! - Sonst müßte ich euch zur Tür hinauswerfen lassen." Doch sie öffnete ihren Beutel und zeigte ihre Schätze. "Alles soll Euer sein, wenn Ihr mir das Kind gebt." Der Kaufherr schüttelte den Kopf. "Vater und Mutter sollen ihr Kind verkaufen? Nicht gegen alle Schätze der Welt! Hinaus mit euch, Alte!" So stand sie wiederum auf der Landstraße und war sehr verwundert. "Ein dummer Mann", dachte sie, "verschmäht meinen kostbaren Schmuck um so ein kleines unnützes Kind."
Sie schritt weiter ins Land hinein und kam nach sieben Tagen in eine Stadt. Ach, war das ein Leben hier! Wagen fuhren mit Pferden bespannt, fröhliche Menschen spazierten überall, und viele, viele Kinder spielten in den Straßen.
Die Alte schaute mit begehrlichen Blicken nach den Kindern. Sie trat auf sie zu: "Will eines von euch mit mir kommen?" Ein größeres Mädchen antwortete: "Nein, wir dürfen nicht mit fremden Menschen gehen." Doch die Alte faßte eines der Kleinsten: "Komm du mit mir." Da brach ein Aufruhr los bei den Kindern, sie begannen zu schreien mit ihren hellen Stimmen: "Hilfe, eine Hexe, die Kinder stehlen wollen! Hilfe, eine Hexe. "Haustüren klappten, Fenster klirrten, Frauen und Männer eilten schreiend herbei. Drohende Stimmen und drohende Gesten richteten sich gegen das alte Weib, das eilends den Rücken kehrte, in den Ohren das gellende Rufen der
Kinder: "Mutter Hex', Mutter Hex'." Sie hastete aus der Stadt und stand wiederum auf der Landstraße.
Wieder wanderte sie weiter. Zum dritten Male waren sieben Tage vergangen, als sie inmitten eines Waldes auf eines Köhlers Hütte stieß. Armut schaute zur Hütte herein und zur Hütte heraus, und des Köhlers Weib stand davor und schalt mit ihren vielen Kindern. "Nichts wie Arbeit, nichts wie Ärger! Zu viele Kinder und zu wenig Brot, schrie sie böse und packte ihre Kinder, um sie zu schlagen. Die Alte trat zu ihr. "Ich könnte euch Reichmachen, dass Ihr mehr Brot im Hause habt als Kinder." "Reichmachen?" Sagte die Frau, "und mehr Brot im Hause? Das wäre mir schon recht! Aber wie sollte dieses möglich sein?" Die Alte öffnete ihren Beutel. "Da, schaut hinein! Das alles soll Euer sein, wenn Ihr mir Euer kleinstes Kind gebt." Da brach abermals der Zorn in den Köhlers Weib los. Sie stemmte die Hände in die Hüften und schrie auf die erschrockene Alte ein: "Mein jüngstes Kind? Bist du verrückt geworden, Alte? Von meinen Kindern willst du, die ich mit Mühe und Arbeit großziehe! Für die ich mich sorge Tag und Nacht? Hallo, Mann", schrie sie über den Platz zu dem arbeitenden Köhler, "jage diese alte Hexe zum Teufel, wohin sie gehört! Sie will uns ein Kind stehlen". Der Mann kam herbeigelaufen mit rußigem Gesicht. Da drehte die Alte sich um und machte, dass sie fortkam. Ein Pantoffel der Köhlersfrau flog hinter ihr her. Betrübt ging sie ihres Weges. Warum wollten die Menschen ihre Kinder nicht geben? So viele Kinder auf der Straße, so viele Kinder bei den Köhlerleuten, aber keines für sie, - keines für sie, wo doch ihr Leben daran hing.