So schritt sie dem Meer entgegen. Wiederum wanderte sie durch Wald und Feld, durch falsches Land, das zum Meer sich breitet. Dann atmete sie den Meereswind, der über die Wiesen strich und stand auf der Höhe der Dünen und schaute auf das Meer, das in seiner Ruhe da lag wie eine schlafende Mutter. Doch das Herz des alten Weibes war schwer und mit Tränen gefüllt bis zum Rande. Langsam schritt sie zum Strande hinab, ihrer Heimat entgegen und ihrem Grab. Sie Sonne war im Sinken begriffen. Unendlicher Friede lag über Meer und Strand. Eine kleine Welle noch durfte sie verharren. Auf den letzten Sonnenstrahlen goldenem Weg wollte sie hineintauchen in Meer und Tod. Sieben mal sieben Tage waren verstrichen, sie aber musste mit leeren Händen vor die böse Krake treten.
Da tönte ein Jauchzen in ihre traurigen Gedanken hinein. Sie sah ein kleines, weißes Ding von den Dünen herab an den Strand laufen. Ein Kind war es im langen Nachthemdchen, dem es wohl ein großer Spaß erschien, aus seinem Bettchen geklettert und davon gelaufen zu sein. Das Fischerhaus, aus dem es stammen möchte, lugte weit hinten über die Dünen. Auch sein Lachen verstummte. Die fremde alte Frau schien es zu erschrecken. Es begann zu weinen. Die Alte aber trat zitternd vor Freude dem Kind entgegen. Ein Kind! Ein Kind! Sie würde ein Kind in
die Tiefe bringen können! Sie würde leben, sie würde wieder Nixlein sein im großen Meer, vom Wind geküsst, vom Sonnenschein umlacht, mit den Wellen spielen wie vor dem in ihrem wonnigen Nixenleben! Sie beugte sich hernieder zu dem Kind und nickt ihm freundlich zu, da hörte es auf mit Weinen und ließ sich willig auf ihren Arm nehmen. Nun hatte sie ein Kind im Arm, zum ersten Mal in ihrem Leben, ein Kind, das ihr Leben retten sollte. Das Kind schaute sie unverwandt an. Es hatte große braune Augen und ein helles Lockenköpfchen darüber. Und nun, da sie ihm wiederum zunickte, legte es seine kleinen Arme um ihren Hals und sein Köpfchen an ihre Schulter. Da überkam ein wundersames Gefühl die alte Frau mit dem Nixenherzen. Die weichen Arme an ihrem Hals, das blonde Lockenhaupt unter ihrem Gesicht durchströmten sie in wonniger Wärme. Ganz eigen ward ihr zu Sinn. Sie suchte einen Platz am Dünenhang und setzte sich nieder. Das Kind bettete sie auf ihrem Schoß. Mit großen vertrauenden Augen schaute das Kind zu ihr empor. Dann trat Müdigkeit in seine Augen und die Augenlider sanken langsam über die braunen Sterne. In süßem Schlaf lag das Kind. Wiederum trat das wundersame Gefühl in ihre Augen, mit scheuer Gebärde betastete sie die kleinen runden Glieder des Kindes. Wie zart die Füße, wie weich die Arme, das ganze Körperchen, das schlafende Gesicht waren Liebe und Glück, die zum Herzen drangen. Ein feines Klingen entstand in ihr, unbekannte, süße Ströme durchzogen sie. Sie nahm das Tuch von ihren Schultern und deckte es über das Kind. Voller Andacht, in scheuer Liebe betrachtete sie lange Zeit das schlafende Kind. Dann hob sie ihre Augen und schaute aufs Meer. Grau lag es und schwer, sein Abendleuchten war vergangen. Es lag unheimlich starr und in seiner Tiefe das böse, lauernde Tier. Da legte das alte Weib, das ein Geschöpf des Meeres war, ihre Hand auf das Herz des schlafenden Kindes und sprach: "Du sollst es nimmermehr haben." Und dann saß sie lange Zeit, die Hand über dem leisen Pochen des Kinderherzens, doch ihr Gesicht ward nass vor Tränen. Als des Mondes stilles Leuchten begann, erhob sie sich und trug das Kind an das Fischerhaus. Dort klopfte sie an die Tür und legte behutsam ihre kleine Last nieder. Im schnellen Davoneilen hörte sie noch den Schreckens- und Freudenruf zugleich von der ahnungslosen Mutter, er fiel, ein schmerzlich-süßes Glück, tief in ihr Herz. Mit stillen Augen ging sie dem Meer entgegen, das tiefe Glück der Selbstüberwindung leuchtete in ihr.
Der aufgehende Mond wies ihr mit seiner leuchtenden Bahn auf dem stillen Wasser den Weg in den Tod. Die irdische Gestalt fiel von ihr, als das Meer ihre Füße netzte, - ein stilles Nixlein tauchte in die Tiefe. Doch, oh Wunder, die grauen, schrecklichen Arme ergriffen sie nicht, es war keine unheilvolle Bewegung in den Fluten. Tiefer tauchte die Nixe. Schweigen lag auf dem Meeresgrund, die dunklen Fanggewächse nur, schwankten leise in den ziehenden Wassern. Vor dem zerklüfteten Felsgestein jedoch, das dichtbewuchert der Krake als Schlupfwinkel gedient hatte, lag die böse Krake in einzelne Teile zerrissen und tot. Lange Zeit verharrte die Nixe vor diesem Wunder und konnte ihr Glück kaum fassen. Dann kam ein Fischlein geschwommen und erzählte der Nixe von dem entsetzlichen Kampf der Krake mit einem großen Haifisch, in dem dieser als Sieger hervorgegangen war. So war das Leben der Krake und ihre bösen Pläne beendet und beglückt zog die kleine Nixe von dannen.
Seitdem plätschert sie wieder fröhlich in den Wellen und singt mit dem Wind und lacht mit der Sonne. Doch wenn es geschieht, dass vom Strand her eine helle Kinderstimme ihr Ohr erreicht, dann hält sie inne in ihrer Fröhlichkeit und lauscht still vor sich hin wie nach einem verlorenem Klang.
Und wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch.
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