Lyrik und Poesie
- Geschichten und Erzählungen -

Das Märchen vom verlorenen Röcklein

Teil 3 - Das Märchen vom verlorenen Röcklein -

Teil 3 - Die Königin
Das Königskind aber lauschte der Melodie. Sein Herz brach auf in süßen Stimmen, wie von silbernen Glocken zur Frühlingszeit. Da fielen die Vergissmeinnicht herab aus seinem Arm, denn es hob sein seidenes Röcklein und es tanzte im grünen Gras. Der Gänsehirte aber tanzte um das Königskind herum, die Schalmei an den Lippen. Nun spielte er das Lied, das die alte Amme dem Königskind einst gesungen:
"Heißa, kleine Liese, tanz mit mir auf der Wiese!"

Das Mädchen dreht sich im Tanz und sang das alte Lied, und die frische Stimme des Jünglings fiel ein, denn die Schalmei lag nun im Grase. Er hatte das Königskind bei den Händen gefasst und sie sangen und tanzten. Das seidene Röcklein aber, von den Mädchenhänden nicht mehr gehalten, schleifte auf dem Wiesengrund und es geschah, dass die Füße der Tanzenden darauf traten. Da riss der Rand des Röckleins. Doch die beiden sangen und tanzten und hielten sich bei den Händen und schauten einander in die Augen. Und gaben des Röckleins nicht acht. Dann besann sich das Mädchen und löste sich von seinem Liebsten. Mit einem Wehlaut schaute es an seinem Röcklein herab und auf die gestickten Lilien des Saumes. Beschmutzt und zerrissen waren die weißen Blüten nicht mehr zu erkennen. Da stand das Königskind mitten auf der Wiese und schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich.
Die Gänse kamen herbei und schnatterten wild über das weinende Königskind. Und was der Hacken des Mädchenschuhes und der Stiefel des Hütebuben nicht zerstört hatten, das rissen die spitzen Schnäbel der Gänse noch herunter vom Rock. Sie bissen und rissen an dem traurigen Röcklein, da sie kein Herz im Leibe hatten.
Herzeleid um Mitternacht

Der Gänsehirte aber löste das verdorbene Röcklein von den Hüften der Königstochter, dass es zu Boden fiel. Er nahm sie auf seine starken Arme und herzte und küsste sie, bis ihre Tränen versiegten. So trug er sie als seine Königin über Wiesen und Felder heim in seines Vaters Hof.
Schreckensbleich stürzte der alte Gärtner zum Königspaar und berichtete von der offengefundenen Mauerpforte und dem Verschwinden der Königstochter. Das ganze Schloss geriet in Aufruhr. Boten wurden in alle Winde geschickt, Reiter stürmten aus dem Tor, der Park wurde abgesucht und im Schloss jeder Winkel durchstöbert. Doch alle kamen vergeblich zurück, das Königskind war nicht zu finden. In der Dämmerung des Abends kam nochmals der alte Gärtner zum Königspaar und legte still ihm etwas zu Füßen. Vor den entsetzten Augen der Eltern lag das verlorene Röcklein.
Von diesem Abend an lag es wie Todesschweigen über dem Schloss. Die Dienerschaft schlich leise umher, die Mägde wagten nicht mehr zu singen. Es war, als säßen überall Gespenster, die mit den traurigen Augen winkten.