Lyrik und Poesie
- Geschichten und Erzählungen -

Das Märchen vom verlorenen Röcklein

Teil 6 - Das Märchen vom verlorenen Röcklein -

Teil 6 - Die Königin
ihn nicht mehr tragen!" Der treue König aber löste ebenfalls seinen Mantel und warf ihn fort.
Der Bergwald wurde dicht, die Zweige hingen tief in den Weg, sie zerrten an der Krone der Königin. Da nahm sie ihre Krone vom Haupt und warf sie ins Dickicht. "Was tue ich mit einer Krone, die mir den Kopf zerschlägt auf dem Wege zu meinem Kind!" Der treue König hob ebenfalls die Hände nach seiner Krone und schleuderte sie in den Wald hinein. Der Weg zum Gipfel war steil. Das kranke Herz hämmerte zum Zerspringen in der Brust. Da löste die Königin die goldene Schnalle ihres Gürtels, dass er zur Erde fiel. Sie nahm die schweren Goldreifen von den Armen und löste die Edelsteinkette von ihrem Nacken. "Was soll mir der goldene Tand, der mir den Weg beschwert zu meinem Kind!" Und auch der König tat seinen Schmuck von sich. Sie erreichten den Gipfel des Berges, ohne lastenden Schmuck, ohne lastenden Tand - zwei Wanderer auf mühsamem Weg. Und siehe da: Vor ihnen lag ein Land in Frieden, von der Abendsonne beglänzt. Ein Bauernhof aber lag inmitten weiter Felder und Wiesen, im tiefen Rot der Sonne, und es war, als läge Glockenläuten über ihm. Eine lange Zeit stand das Königspaar versunken in diesem Anblick. Dann wandten sie sich noch einmal zurück zu dem Land, das hinter ihnen lag. Und sie sahen auf die herzlosen Straßen, und die eitlen Menschen in ihren Städten, und auf Neid und Missgunst und falsche Herzen, die nicht achteten der Gaben, die Gott ihnen gegeben. Da hoben sich die Augen dem Abendfrieden entgegen und stiegen Hand in Hand den Berg hinab. Ein Weg, an dem im Abendwind die Birken sangen, führte zu dem Bauernhof. Auf den Weiden standen Kühe und Kälber, und Pferde trabten ans Gatter, die Wanderer zu begrüßen. Am Rande des Weges aber, inmitten blühender Gräser, stand ein kleiner Knabe. Sein Haar leuchtete in der Sonne, als trüge er eine Krone. "Wer bist du, Knabe, und wer sind deine Eltern?" Fragte der König. Das Kind hob seine strahlenden Augen empor. "Meinem Vater gehört Hof, Land und Gesind, meine Mutter aber ist ein Königskind!" Da weinten der König und die Königin, und knieten nieder bei dem Kind und herzten und küssten es in großem Leid und großer Freude.
Glück im Abendsonnenschein

Im warmen Abendsonnenschein lag das Haus. Seine Fenster blinkten, Rosen berankten seine Wände. Auf der Bank neben der Haustür saß die junge Bäuerin. Neben ihr stand eine Wiege. Die Bäuerin nähte an einem winzigen Röcklein, da bunt leuchtete wie von Blumen, die hineingesteckt waren. Der Bauer dengelte seine Sense. Kling, klang, tat es, als tönte ein lustiges Glöcklein in der Stille. Als das Königspaar mit dem Knaben an der Hand unter das Hoftor trat, hob die Bäuerin den Kopf von ihrer Arbeit. Sie erhob sich, ihren Eltern entgegen zu eilen, doch zitternd blieb sie stehen. Die eine Hand legte sie auf die Wiege, die andere auf das Haupt des Knaben, der auf sie zugelaufen war und sie zärtlich umschlang.
Das lustige Glöcklein Kling-klang hörte plötzlich zu tönen auf und die große Gestalt des Bauern trat neben sie und ihre Kinder. Es war mit einem Male lautlose Stille über dem Hof, nur der Abendwind flüsterte in den Bäumen. In diese Stille hinein