Annes Vaterhaus stand an der pommerschen Ostseeküste, auf dem Darss. Ihr Vater war Fischer, wie alle seine Vorfahren. So hatte Anne von Kindheit an gelernt was es bedeutet, mit der Natur und von der Natur, mit dem Meer und von dem Meer zu leben. Die Natur war für sie der Ausdruck Gottes, sowie Gott der Inbegriff der Natur für sie war. Sie lebten mit Gott in der Natur. Sie arbeiteten und beteten ernst und gewissenhaft wie das Meer, die Natur, also Gott sie es lehrte. Und wenn sie in der schlichten Darss-Kirche, die versteckt hinter den Dünen lag, des Sonntags sangen, so warf das Meer seine Stimme zwischen die ihren, ein herrlicher, erhabener Zweigesang mit Gottes Natur. Ehrfurcht vor seiner gewaltigen Größe lebte in ihren Herzen.
Als Anne nach Rostock gekommen war, die Muhme zu pflegen, hatte sie große Augen gemacht vor der Pracht der städtischen Kirchen. Sie war wie geblendet gewesen von all den Kostbarkeiten, den Altären, den Bildern und Figuren, dem Gold und Eisenspitzenwerk der Verkleidungen außen und innen. Hingerissen hatte sie der neuen Art der Predigten gelauscht. Allmählich aber war sie sehr verwundert. Ging es wirklich so schlecht her in der Welt, wie die frommen Brüder es von den Kanzeln hernieder predigten? Waren alle Menschen wirklich verstockte Sünder, die in den Klauen des Teufels lagen? Wer war überhaupt der Teufel, dieser böse Dämon, der über alle Menschen sein Regiment führen sollte?
Anne konnte mit ihrem reinen Herzen nicht glauben, was die Prediger sprachen. Sie fühlte sich beschämt für ihre Mitmenschen. Es verletzte und bekümmerte sie, wie ergeben und demütig die Menschen in der Kirche diese Schmähungen hinnahmen.
"Tut Buße" schrieen die Mönche in den Kirchen - "Tut Buße" riefen sie in den Häusern und an den Krankenbetten. "Kniet vor Gott im Staube, geißelt euch und entsagt des Fleisches Lüsten. Habt ihr die Pest vergessen," schrieen die Prediger, "die Pest, die Gott euch schickte, um euch zu züchtigen?"
Anne schauderte. Ihr Blick wanderte in die schon dunkle Ferne, über Warnow hinüber, wo, wie sie wusste, die Pestgräber lagen. Dorthin hatte man die unzähligen Leichen gebracht, hatte sie des nachts auf Karren geladen und vor die Stadttore gefahren, um sie weit vor den Toren in großen Gruben gemeinsam zu begraben. Dieses Elend also sollte der große und gütige Gott über die Menschen gebracht haben, um sie zu strafen?
Anne war nicht mit vielen Menschen in Berührung gekommen, doch die ihr bekannten Menschen trugen stolz und aufrecht ihr Haupt auf den Schultern. Sie dachte an ihre Eltern, an die anderen Darssbewohner. Fischer wie sie, an die Alten und Jungen - wo war bei ihnen Angst vor Schlechtigkeit und Bestrafung?
Hier erst in der Stadt hatte Anne gelernt, die Türen zu verschließen, beim Einkauf auf das Geldbeutelchen zu achten, Misstrauen zu hegen gegen Fremde. Und doch! Auch hier in der Stadt lebten die Menschen gut und ehrenhaft, die von den Reden der Mönche nicht betroffen werden konnten. Aber auch sie hatten entsetzlich leiden
müssen unter der Pestgeißel und ihre Angehörigen lagen in den Gruben da draußen im Land.
Warum strafte Gott auch diese Menschen?
Annes Augen wurden hart und streng, als sie weiterdachte. Gab es wirklich einen guten Gott, wenn er diese entsetzlichen Strafen ohne Unterschied über alle Menschen schickte? War er fähig in seiner Güte und Heiligkeit, die Menschen auf so furchtbare Weise in seinen Willen zu zwingen?
Anne Brinkmann tat einen tiefen Atemzug. Mit einem Lächeln fast schüttelte sie den Kopf.
Nein! Nie und nimmer war Gott so niedrig und bösartig, dass er solches tun konnte! Gott war allmächtig, Gott war groß - Anne stutzte, ein ferner Glanz trat in ihre Augen.
War Gottes Größe so grenzenlos in seiner Heiligkeit, dass das winzige Menschengeschlecht auf der Erde ihn nicht mehr berührte? Dass er nichts für sie und nichts gegen sie tat? Vielleicht lag es am Menschen selbst, an der Kraft seines Geistes und seines Körpers, die Widerstände des Lebens zu brechen oder aber ihnen zu unterliegen? Wenn aber Gott groß war für die Menschen auf der Erde, wer legte die Kraft ins Herz, zur Freude, zum Schmerz, zum beseligendem Lebensgefühl in sich selbst?
Anne spürte es seltsam klar in ihrem Herzen: Das war ein Hauch von Gott, ein Fünkchen in der Lebensflamme, ein Sonnenstäubchen im All, ein Wassertropfen im unendlichen Meer!
Sie hob den Kopf. Schaute mit frohem Herzen empor zum Abendhimmel, an dem die ersten Sterne zu glänzen begannen. Glückhafte Ruhe überkam sie, unbewusst stützte sie das Haupt auf die gefalteten Hände. Plötzlich schrak sie zusammen. Hinter ihr, aus dem Dunkel der Petrikirche, hatte sie das Geräusch von Schritten vernommen. Blitzschnell dreht sie sich um, den Rücken zur Mauer, in Erwartung des Feindes, des Mönches, wie sie vermutete. Aber nicht das Gesicht mit den unheimlichen Augen war es, das aus dem Dunkel ins hellere Licht tauchte. Ein hochgewachsener, junger Mann zog höflich den Federhut.
"Grüß' Gott euch, Jungfer Anne Brinkmann", sagte eine wohltönende Stimme, "verzeiht, dass ich euch störe! Ich wagte nicht, euch früher anzusprechen. Mir schien, ihr wäret sehr am Sinnen."
Jungfer Anne löste die zusammengepressten Hände, ihre in Abwehr hochgereckte Gestalt fiel etwas zusammen.
"Mich so sehr zu erschrecken", murmelte sie. Doch dann hob sie sofort wieder den Kopf.
"Mich deucht, ihr irrt euch in der Adresse, Herr! Ich bin nicht hier heraufgeflohen, um auf fremde Männer zu warten, wie ihr anzunehmen scheint, sondern weil - weil - "
Sie wurde unsicher. Wie konnte sie dem fremden Junker von ihrer Angst erzählen.