Lyrik und Poesie
- Geschichten und Erzählungen -

Die Hexe

Teil 8 - Die Hexe aus Rostock -

Teil 8 - Die Hexe
"Ich wollte euch helfen, euren kleinen Jungen zu pflegen," flüsterte sie, "ich habe Erfahrung in Krankenhausbehandlung." Und als sie die verständnislosen Augen der Frau gewahrte, fügte sie schnell hinzu: "Ihr Mann kennt meinen Verlobten sehr gut und hat uns hierher zu euch geführt." Nun erst wanderten die Frauenaugen fort von dem hellen Mädchengesicht und blieben an Michael haften. Ihr Ausdruck wechselte erstaunlich. Ein sanftes Leuchten sprang in ihnen auf, breitete sich über das blasse Gesicht, übergoss es mit zartem Freudenschimmer. "Der Herr Junker", lächelte sie ihn an, "unser Lebensretter!" Plötzlich stürzten Tränen über ihre Wangen hinab. Ohne die Bewegung sie zu trocknen oder fortzuwischen, wendete sie still das Haupt zu ihrem Jungen zurück. Anne und Michael waren erschüttert von dieser Lautlosigkeit des Schmerzes. Der rote Jörg starrte mit gramvollem Gesicht zu Boden. "Darf ich euch helfen?" fragte Anne leise. Die Frau hob langsam den Blick zu Anne. "Es gibt keine Hilfe mehr, Jungfer. Schon zweimal hat der Tod ans Fenster geklopft, ich hörte es in den vergangenen Nächten. Und immer wieder quert eine schwarze Katze unseren Weg, wenn wir am frühen Morgen aufbrechen zur Fahrt. Meine Lippen sind lahm vom beten des Rosenkranzes für das Leben unseres Kindes, aber die Mutter Maria erscheint mir nicht im Traum, unseren Jungen gesund zu machen." Anne stand erschrocken. So viel Aberglauben herrschte in diesem kleinen Wagen? So viel Unkenntnis und falschbetriebenes Christentum wucherten hinter dieser jungen Frauenstirn? Da klang die Stimme des Vaters auf: "wenn die Jungfer versuchen will, uns zu helfen, so soll sie von Herzen bedankt sein!" Zu Michael gewandt, fuhr er leiser fort: "Meine Frau ist am Ende ihrer Kräfte. Sie weicht nicht vom Lager des Jungen. Des nachts erst, wenn sie vor Erschöpfung eingeschlafen ist neben ihm, trage ich sie auf unser Bett hier." Er deutete auf ein zweites, breiteres Lager an der Tür. Anne nahm die Hand der Frau. "Ich komme heute Nachmittag wieder. Ich bringe Kräuter mit und Salben, und ein wenig frische Luft, die hier nötig ist", fügte sie lächelnd hinzu.
Sie verließ mit Michael den Wagen. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, bedrückt von dem soeben Erlebten. Ein Seufzer kam von Annes Lippen. Sie drückte ihren Kopf wie hilfesuchend an Michaels Schulter. "Wie dicht sind Glück und Unglück beieinander, Michael! Ach, wenn ich denke wie mir ums Herz war, als Du mich im Arm hieltst - und wie traurig ich nun bin!" "Anne", sagte er innig, "wenn es nicht unmöglich wäre, so würde ich behaupten, dass ich jede Stunde dich mehr liebe! Aber eines muss ich dir sagen, und du darfst nicht böse darum sein: Es sprengt fast mein Herz vor Glück und Stolz, wenn ich daran denke, dass du dereinst die Mutter meiner Kinder sein wirst!" Anne tat einen tiefen Atemzug. Errötend wehrte sie ab: "Nicht, Michael, das dürfte noch ein wenig Zeit haben!" "Meinst Du, Anne?" - Michaels Stimme bebte. "In Schweden habe ich noch Geschäfte zu erledigen, dann hole ich dich zur Hochzeit!". Sie waren stehen geblieben. Anne zog seine Hände an ihre Brust. "Ja", sagte sie innig, "ich gehöre Dir!" Doch als Michael sie ungestüm an sich ziehen wollte, entzog sie sich ihm mit einem kleinen Lachen. "Michael, Liebster, es ist heller Tag und wir stehen mitten auf der Wiese!" "Verzeih' Anne," murmelte er beschämt, "ich sehe nur noch dich auf der Welt!" Sie wandten sich dem Tore zu. Der Torwart stand vor seiner Tür und sah ihnen schmunzelnd entgegen. Er drohte mit dem Finger. "Na, na, so offensichtliche Liebesleut' mitten am hellen Tag und das gerade vor meinem Tor? Wie lange soll denn das Geheimnis bleiben?" "Gar nicht mehr", fiel Michael in sein gemütliches Lachen ein, "ich gehe noch heute als Freier zur Muhme und in einigen Wochen hole ich mir meine Braut heim!" "Gott segne euer Glück", erwiderte ernst werdend der Alte, "wer die Jungfer Brinkmann freit, dem kann es nicht schlecht ergehen." "Hinnerk", rief Anne abwehrend - "Ihr übertreibt!" "Nee, nee, mein Döchting", strahlte der Weißbart, "der alte Hinnerk kennt die Menschen und weiß sehr genau, Gut und böse zu unterscheiden. Er winkte ihnen nach, als sie weitergingen die Straße hinauf. "Anne, Mädchen, wo steckst du bloß so lange? Ich bin schon krank vor Aufregung! Wenn Du so spät kommst, muß es doch etwas besonderes gegeben haben? Kind, wie siehst du aus? Wie unordentlich ist dein Haar? Anne, was machst du denn für ein Gesicht? Du glühst ja, Kind!" Anne saß schon am Bett der Tante. Sie streichelte die alten Hände, ließ in glücklicher Versunkenheit der Tante Redestrom an sich vorüberrauschen. Saß da mit Augen die nach innen schauten, mit lächelndem Mund, der von empfangenen Küssen träumte. Endlich begann sie zu sprechen. Zuerst starrte die Muhme sie erschreckt an. Dann wurde das alte Gesicht weich und schließlich stand helle Freude auf ihm. "Mädchen, Mädchen", schüttelte die Alte den Kopf, "ein Kaufherrnsohn!" Aber", fügte sie stolz hinzu, "so einer ist gerade recht für dich!"