Anne lächelte und legte der Tante die Arme um den Hals. "Muhme, was du auch alles gleich bedenkst! Ich habe ihn so lieb, dass mir alles andere gleichgültig ist!"
Die Alte lachte in Annes Armen. "Ja, das habe ich nämlich auch schon gemerkt, Kind! Du lässt vor lauter Liebe sogar deine alte Tante verhungern!"
Anne sprang mit einem Schrei auf.
"Wie kann ich nur so vergesslich sein! Ich habe Dir aber noch gar nichts von der Gauklerfamilie erzählt. Während deiner Mahlzeit werde ich von ihnen berichten."
Sie war schon aus der Tür. Die Muhme hörte gleich darauf das Klappern und Wirtschaften in der Küche.
Anne hatte ihre Erzählung von dem kranken Kind beendet. Die Muhme machte ein sehr bedenkliches Gesicht dazu.
"Weißt Du, Kind, das ist natürlich sehr jammervoll für die Eltern und ich kann gut verstehen, dass du gern helfen willst. Aber - aber! Es ist nicht gut, Anne, sich mit solchen Leuten zu befassen. Diese herumziehenden Gaukler sind eine ganz andere Art Menschen als wir. Man achtet sie nicht sehr. Du weißt auch, sie müssen vor den Toren der Stadt bleiben und dürfen die Stadt nur bei Tage betreten!"
"Das hat aber nichts mit dem kranken Kind zu tun, Muhme! Ich habe den Eindruck, dass diese junge Frau vor Angst und Sorge fast den Verstand verloren hat, denn anscheinend unternimmt sie nichts. Die Luft im Wagen ist schon für uns Gesunde nicht zu atmen, wie viel weniger für ein krankes Kind. Und, Muhme," Anne schaute mit klaren Augen auf die alte Frau, "Du weißt es selbst, dass allein vom Beten noch kein Kranker wieder gesund geworden ist. Wir haben noch Kräuter zu einem kräftigen Tee in der Küche, das wird den Husten lösen. Und ich werde Umschläge machen, wie die Mutter es mich gelehrt hat, wenn meine kleinen Geschwister krank waren. Hilfe ist überall möglich, wenn man nur ein bisschen damit umzugehen versteht."
"Meine liebe Anne", die Alte drückte des Mädchens Hand, "ich kenne selbst am besten deine guten Pflegehände. Aber trotzdem will es mir nicht so recht gefallen, dass du zu den Gauklern gehst. Du weißt nicht, wie schlecht und misstrauisch die Welt ist. Da bleibt leicht etwas an einem jungen Mädchen hängen. Und ganz besonders jetzt, wo die Pfaffen sich nicht genug tun können, von Satanskünsten und bösen Geistern zu predigen! Sie bringen mit ihren Redereien das Volk noch um sein bisschen Verstand. Ich hörte neulich, als die Nachbarin hier war, dass die Lübecker einen fahrenden Spielmann aufgehängt haben, weil er des nachts angeblich in der Gestalt eines Katers die Mädchen verhext haben soll! Denk dir, ein Mensch soll sich in ein Tier verwandeln können! Und so etwas glauben ausgewachsene Menschen. Sonst könnten sie so einen Unglücklichen doch nicht hängen!" Das Mädchen schüttelte den Kopf.
"Muhme, du siehst Gespenster! Auch du glaubst doch nicht an solche Schauermärchen. Mit solchem Aberglauben habe ich doch nicht das mindeste zu
tun. Überhaupt, mir scheinen die Städter oft recht merkwürdig zu sein: Sie teilen die Menschen ein nach Ständen, nach Rang und Würden, nach Reichtum order Armut. Wir Leute an der See teilen die Menschen ein nach "guten" und "bösen" und mich dünkt, diese Einteilung ist die bessere! Sieh, Muhme, die Gaukler sind doch nicht schlecht, weil sie arm sind. Im Gegenteil, gerade weil sie arm sind und ihr Leben darum viel schwerer ist, müssten die Mitmenschen sie besonders achten und ihnen brüderlich zur Seite stehen!" Die alte Frau hob sorgenvoll die Hände.
"Kind, Kind, du weißt nicht, wie es auf der Welt zugeht. Du kommst mit deiner unberührten Jugend vom Ende der Welt und willst mit deinem reinen Herzen die Welt einteilen in gut und böse. Du weißt nichts von dem Getriebe der Menschen, kennst nicht ihre Eitelkeiten, ihre Herrschsucht, ihre Geldgier und ihre niedrigen Triebe. Anne, Anne, Gott verhüte die Stunde, in der die Wahrheit über diese Welt dein reines Herz zerreißt!"
Annes Gesicht hatte sich verfärbt. Die Worte der Tante erschütterten sie in ihrer Eindringlichkeit. Unwillkürlich musste sie an den Mönch denken, an seine mit scheinbarer Frömmigkeit zugedeckte Lasterhaftigkeit. Sie schwieg eine ganze Weile. Dann hob ein tiefer Atemzug ihre Brust.
"Du magst recht haben, Muhme, vielleicht ist es wirklich so, wie du sagst. Ich aber kann nichts anderes, als die Welt mit meinen eigenen Augen ansehen. Ich liebe unsere schöne Erde so sehr, mit ihren Wäldern und Wiesen, mit ihrer weiten See und dem hellen Strand, mit allem, worüber Wind und Wetter hinbrausen, worüber die Sonne strahlt. Und ich spüre so eine herrliche Kraft in mir und so eine Freude, dass ich alles, was vielleicht durch die Menschen nicht mehr gut ist auf dieser Erde, wieder gutmachen möchte. Ich kann nicht anders, Muhme! Wenn ich sehe, dass ein Mensch leidet, so möchte ich ihm helfen. Es lässt mir anders keine Ruhe. Und ob er reich oder arm, angesehen oder missachtet ist, so hat das nichts mit meiner Hilfsbereitschaft zu tun. So ein armes, leidendes Kind! Du selbst würdest dich seiner annehmen, wenn du gesund wärest!"
Die Muhme seufzte. Sie streichelte Annes Arm.