Lyrik und Poesie
- Geschichten und Erzählungen -

Die Hexe

Teil 3 - Die Hexe aus Rostock -

Teil 3 - Die Hexe
Der aber stand nun vor ihr und hielt die eine Hand gegen die Stadtmauer gestützt, so dass sein Arm fast ihre Schulter berührte. "Geflohen, Jungfer Brinkmann? Vor wem denn seid ihr hier herausgeflohen? Anne hob zaghaft den Kopf. Obgleich sie selbst eine gute Größe aufwies, überragte sie der Mann um Haupteslänge. Sie schaute zu ihm empor und blickte in stahlblaue, sehr ernste Augen. Ein Gefühl von Ruhe durchströmte sie plötzlich. Ja, diesem Gesicht konnte sie erzählen, was sie bedrückte. Diese Augen waren gut und stark. Dann aber kam ihr zu Bewusstsein, dass dieses Gesicht einem jungen Mann gehörte, einem fremden Junker, der sie hier im Abenddämmern dreist angesprochen hatte. Eine Glutwelle schlug in Annes Gesicht. Rasch entschlossen bückte sie sich und schlüpfte unter seinem Arm hindurch. Erst als sie einige Schritte von ihm entfernt war, drehte sie sich nach ihm um. "Es geht euch nichts an, Junker! Mich deucht, ihr solltet Besseres tun, als euch um fremde Mädchen kümmern!" Der Junker stand wie festgewurzelt an seinem Platz, langsam schlug er die Arme vor die Brust ineinander. "Ich kümmere mich nicht um fremde Mädchen, aber um euch, scheint mir, muss ich mich sehr kümmern, Jungfer Brinkmann!" Nein, nein, dachte Anne und schüttelte heftig den Kopf, nein, nein! Aber sie dachte es nur deshalb so heftig, weil ihr Herz schon ja, ja gesagt hatte. Der Junker aber stand an die Mauer gelehnt und schaute versonnen dem Mädchen nach, das eilig den Petrihügel hinabschritt. Undeutlich sah er ihre schlanke Gestalt dann im Dämmer der Straße, die sich, vom Petritor kommend, längs der Kirchenseite zum Alten Markt hinzog. Er hörte den Klang der Haustür, hinter der Anne seinen Blicken entschwand. Ein weicher Ausdruck trat in sein Gesicht. Wenn sie ihn auch abgewiesen hatte, so kränkte es ihn nicht. Er würde sie wiedersehen, das stand bei ihm felsenfest, um so mehr er nun wusste, dass sie bedroht und vor jemandem geflohen war. Liebe, stolze Anne Brinkmann, ich werde dich schützen, ich werde dich bewahren. Und wenn selbst der Teufel die Hände nach dir ausstrecken sollte, ich würde den Kampf mit ihm aufnehmen! Der Junker Michael Rhode wusste in dieser Stunde noch nicht, wie hart, wie furchtbar der Kampf mit dem Teufel für ihn werden sollte. Sonst hätte er das Mädchen, wie es ging und stand auf der Stelle aus dem Hause der Muhme geholt und wäre mit ihm noch bei Nacht aus der Stadt geflüchtet.
So aber machte sich der Junker mit seinen liebevollen Gedanken auf den Heimweg, dem Hafen zu. Als er in der Höhe des Marktes den Schatten der Kirche verließ, hörte er von der Straße her ein Haustür ins Schloss fallen. Gleich darauf stürmte ein Schatten die Straße herauf. Michael erkannte einen hageren Mönch, der mit langen Schritten an ihm vorüberschoss. Ein unangenehmes Gefühl beschlich den Junker. Einen Augenblick durchzuckte ihn der Gedanke, ob der Mönch wohl aus dem Hause kam, das Anne soeben betreten? Er tat aber den Gedanken sogleich ab - Gespenster sehen lag ihm nicht. Er ahnte nicht, dass tatsächlich ihm der Teufel begegnet war, den er vor wenigen Minuten noch, oben an der Stadtmauer, in Gedanken herausgefordert hatte. "Anne, wo steckst du? Anne, mach' doch den Kindern die Tür auf, sie klopfen schon so lange!" "Ja, Muhme, ich komme schon!" Annes lachendes Gesicht erschien in der Tür zur Schlafkammer. Sie brachte die Schüssel mit Hafergrütze ans Bett, rückte der Kranken die Kissen zurecht. Verstohlen betrachtete die Alte das Mädchen. Ein so liebes und kluges Geschöpf wie die Anne gab es so schnell nicht in der ganzen Nachbarschaft. Seit vier Wochen war das Mädchen nun bei ihr, sie zu pflegen, und erst im Frühjahr sollte sie wieder zu den Eltern zurückkehren. Bis dahin wollte die Muhme schon längst wieder außer Bett sein und mit der Brudertochter einen recht gemütlichen Winter verleben. Wer weiß, vielleicht würde sie sogar mit Anne auf den Darss zurückfahren - alte Hände zum stricken und Stoppen und nähen waren überall willkommen. Anne war inzwischen nach unten zur Haustür gelaufen. Lustiges Kinderlachen tönte zu der Kranken herauf. "Jungfer Anne, Jungfer Anne, wir haben schon s o lange auf dich gewartet!" "Ach, ihr kleines Kroppzeug, wer sollte dann wohl meine Arbeit machen, wenn ihr mich noch früher aus dem Hause holen würdet!" "Lass' die Arbeit liegen, Jungfer Anne! Die Muhme liegt doch im Bett und sieht es nicht." Das war der Klaus, des Torwächters Enkel, ein draller Knirps mit roten Bäckchen, der diese herausfordernde Rede hielt. Er schaute sich stolz um im Kreise seiner Gefährten ob seines Mutes. Da fühlte er schon Annes Finger an seinem Ohrläppchen. "Warte, du Schlingel, du hast ja schöne Grundsätze." Sie drohte ihm lächelnd, wohlwissend, dass die Reden dieses Sechsjährigen seine Taten bei weitem überflügelten. Dann trappelte die Kinderschar die Treppe hinauf zum Morgengruß bei der Muhme. Ein kleine Stunde darauf saß Anne draußen vorm Petritor auf der Wiese. Es war wunderbar warm. Die Julisonne hüllte die ganze Landschaft in sanftes Gold. Leiser Wind strich über Bäume, Wiesen und Wasser. In Annes Rücken lag die Petristadt auf ihrem Hügel, die hellbesonnten Hausdächer leuchteten über die Stadtmauer. Vor Annes Blicken breitete sich das schöne Warnowtal in seiner Ruhe, hügelige Wiesen und Felder dehnten sich in sommerlicher Reife. Still floss die Warnow zwischen ihnen dahin.