Die Sonne lag auf Annes blondem Haar, auf ihren flinken Händen, die Kränze wanden für die sie umspielenden Kinder. Die Mädchen pflückten eifrig Blumen für Annes Werk, sprangen auf der Wiese umher und hockten sich ins Gras, selbst lieblichen Blumen gleich, die in Wind und Sonne ein frohes Dasein führten.
Die Knaben hatten ihren Spielplatz dichter zum Tor und zur Stadtmauer hinverlegt. Von dort tönte ihr lustiges Geschrei, wenn die Böschungen zur Mauer auf- und niedersausten.
So hatte Anne in ihrer Versunkenheit gar nicht bemerkt, dass zwei ihrer Schutzbefohlenen, natürlich der wilde Klaus mit seinem Freund Dieter, schon eine geraume Weile nicht mehr bei den wildschreienden Mauerstürmern waren. Erst als plötzliches Schweigen an der Mauer eintrat, hob das Mädchen den Kopf von seiner lieblichen Arbeit. Die Knaben standen unweit des Tores und schauten schweigend einer seltsamen Gruppe entgegen, die, jenseits des Tores vom Hafen kommend, sich ihnen näherte.
Der Mann, der den Mittelpunkt des Dreigestirns bildete, war allerdings weniger seltsam anzuschauen als die beiden schreienden Jungen, die er an jeder Hand mit sich zog, und die, tatsächlich seltsam, eine nasse Spur hinter sich ließen. Anne sah, dass die drei jetzt bei den Knaben stehen blieben, die zu Anne hinüberdeuteten, und wie nun der ganze Schwarm sich ihr zuwandte. Mit einem Male wurde ihr Gesicht weiß, um gleich darauf von einer brennenden Röte übergossen zu werden. Sie hatte ihre beiden Schutzbefohlenen erkannt, Klaus und Dieter, die klatschnass und weinerlich an des Mannes energischen Händen auf sie zusteuerten. Und der Mann? Anne erkannte die hohe Gestalt, erkannte den federnden Gang und das kühne Gesicht mit den stahlblauen Augen! Sie stand auf der Wiese, hatte die Hände vor Schreck - oder war es vor Freude? - vor der Brust gefaltet und schaute den Näherkommenden in sichtlicher Verwirrung entgegen. Die kleinen Mädchen waren ebenfalls von ihrem Blumenpflücken aufgestört und standen um Anne herum mit erschreckten und auch sehr neugierigen Gesichtern.
Das Bild, das Anne und die sie umgebenden Mädchen boten, war so voller Lieblichkeit, dass es dem Junker Rhode wie ein Feuerbrand zum Herzen stieß. Doch höflich und gemessen zog er den Federhut. Ein Blitzen stand in seinen Augen.
"Gestattet, Jungfer Brinkmann, dass ich euch anspreche?"
Einen Blick sandte er zum Himmel, einen zweiten hernieder auf die Kinderschar, um mit fröhlichem Lachen hinzuzufügen:
"Es ist heller Tag, kein dämmernder Abend, und wie ich sehe, befindet ihr euch in sicherer Gesellschaft!"
Auch um Annes Mund stand ein kleines Lachen.
"Ihr nutzet meine schlimme Lage aus, Junker! Ihr seid in diesem Augenblick der Stärkere, denn ich sehe, ihr bringt mir diese beiden Jungen zurück."
Ihr Gesicht wurde ernst. Sie trat an die beiden heran, fasste mit einem Schreckenslaut an ihre nassen Kleider.
"Was habt ihr denn gemacht, um Gottes Willen? Wohin seid ihr gelaufen?"
Klaus presste seine dicken Fäuste vor die Augen, schluchzte:
"Es liegt doch soooo ein schönes Schiff im Hafen!"
"Soooo ein schönes Schiff", echote Dieter, indem er weinerlich und bewundernd zu dem großen Mann an seiner Seite emporschaute.
"Ja, Jungfer Brinkmann", nahm nun Michael das Wort, "deshalb sind diese beiden Helden an den Hafen gelaufen. Und da das schöne Schiff mitten auf der Warnow vor Anker liegt, wollten sie es von Nahem besichtigen. Am Ufer in ihrer Nähe lag ein leeres Boot zum hineinsteigen und gerade fielen die beiden Seefahrer beim abstoßen ins Wasser, als ich sie gewahrte und herausfischen konnte. Das ist die ganze Geschichte, Jungfer! Und nun schickt die beiden Edlen nach Hause zu ihren Müttern, damit sie trockene Kleider und die dazugehörigen Prügel in Empfang nehmen können."
Bei seinen letzten Worten gab der Junker den beiden Knaben einen Klaps auf die Schulter und schob sie in Richtung auf das Tor zu. Eiligst stoben sie davon. Hinter sich die gesamte Kinderschar, die diese Sensation bis zur Neige auszukosten gedachten.
So standen sich die beiden jungen Menschen plötzlich wieder allein gegenüber. Anne in Verlegenheit, Michael Rhode aber in kaum zu bändigender Freude.
Schweigend schaute er sie an. Anne aber hob die Hand und streckte sie ihm entgegen.
"Wie dankbar bin ich euch, Junker, dass ihr die Knaben aus dem Wasser gezogen habt! Wenn ich denke, dass - dass - ."
Sie stockte und begann zu zittern.
Michael umschloss ihre Hand mit seinen beiden Händen. Sehr ernst schaute er dem Mädchen ins Gesicht.
"Ich bin dem Schicksal dankbar, dass es mich auf diese sonderbare Weise wiederum zu euch geführt hat. Gestern Abend lehntet ihr mich ab - ich kann es wohl verstehen. Heute nun durfte ich euch, ohne es u wissen, von einer bösen Not bewahren. Darf ich euren Dank nehmen als Zusage, dass ihr mir nicht wieder fortlaufen wollt, wenn ich euch suche?"
Annes Herz tat viele schnelle Schläge. Fast vermeinte sie, der Junker müsse sie hören. Eine feine Röte stieg an ihrem Hals empor. Michael Rhode sah es mit Entzücken.
"Nun?", drängte er und legte noch ihre zweite Hand zwischen seine beiden.
Da schaute Anne ihm mit dem Ausdruck wunderbarsten Vertrauen gerade in die Augen.